Unterstützung für traumatisierte Menschen und ihre Angehörigen 
 

Nicht allein: Leseprobe

Wie es zu diesem Buch kam

Der 23. Juni 1993 ist für mich ein ganz besonderer Tag. Dieses Datum markiert das Erwachen aus meinem schützenden Dornröschenschlaf. Damals hatte ich bereits zehn Jahre Therapie hinter mir. In diesen Jahren ging es mir zwar immer wieder recht gut, doch es hielt sich das bedrückende Gefühl, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte. Deshalb hatte ich auch nach fünf Fehlversuchen erneut eine Therapie begonnen.

In dieser Therapie arbeiteten wir mit Träumen. Ein Traum, in dem mein Auto brannte und ich nur meinen Teddybär retten konnte, schien meiner Therapeutin besonders gut zu gefallen. An jenem Tag, es ging mir sehr gut, stellte sie mir erneut Fragen zu diesem Traum. Da wurde ich wütend und sagte: „Mich nerven diese Fragen. Ich habe das Gefühl, Sie glauben, dass ich in meiner Kindheit irgendein Trauma erlebt habe. Und weil es gerade modern ist, denken Sie womöglich, ich sei als Kind sexuell missbraucht worden!“ Kaum waren mir diese Worte entschlüpft, drückte sich mein Brustkorb zusammen und presste das Wort »Gräbele«[1] heraus. Mir wurde schlecht. „Wo ist das »Gräbele«?“ fragte meine Therapeutin. Und ich antwortete wie in Trance: „Bei meiner Oma.“ Gehorsam legte ich mich dann in dieses »Gräbele« auf den Boden. Das, was dann geschah, war der reinste Horrortrip. Ich spürte brennende Hände auf meinem Körper, mir war speiübel und ich schrie innerlich! Ich war mir sicher, nun wirklich wahnsinnig geworden zu sein. Oma hatte Recht. Ich musste für immer eingesperrt werden. Als ich wieder zu mir kam, lächelte mich meine Therapeutin liebevoll an und sagte: „Sie sind nicht verrückt. Sie haben sich nur endlich daran erinnert, was Ihnen früher einmal passiert ist. Ich habe schon lange darauf gewartet, dass Sie ihr Trauma erinnern können.“ Ich hatte das Gefühl, ihr glauben zu können und gestattete mir selbst fürs erste, meiner Erinnerung zu trauen. All meine „seltsamen“ Verhaltensweisen kamen mir wieder ins Gedächtnis. Und plötzlich ergab das alles einen Sinn, ich konnte mich verstehen.

Völlig erschöpft ging ich nach Hause, stellte eine Flasche Sekt kalt und wartete auf meinen Mann. Als er von der Arbeit kam, erzählte ich ihm, was geschehen war, und bat ihn, mit mir auf diesen »Durchbruch« ein Glas Sekt zu trinken. Ich war sicher, dass nun, da ich wusste, weshalb ich solche Probleme hatte, alles gut würde.

Doch leider hielt meine Euphorie nur kurz an. Weitere Erinnerungen folgten. Und ich stürzte, stürzte und stürzte in ein tiefes Loch. Gleichzeitig stellten sich Trotz und Kampfgeist ein und ich beschloss, allen zu zeigen, dass man auch dieses Trauma überleben konnte. Ich wollte ein Buch darüber schreiben, um der ganzen Welt zu vermitteln: Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels. Dieser Vorsatz hielt mich am Leben und sechs Jahre später löste ich mit dem Schreiben dieses Buches mein Versprechen ein.

Der Weg von der ersten Zeile bis zum fertigen Buch war manchmal sehr beschwerlich. Besonders schwierig gestaltete sich die Suche nach geeigneten Interviewpartnerinnen. Doch schließlich gelang es mir, dank der Idee einer Freundin, die unterschiedlichsten Möglichkeiten und Medien zu nutzen, um genügend Interviews zusammen zu bekommen.

Ein Problem während des Schreibens war meine eigene Seele. Oft fragte ich mich, ob ich mein Vorhaben verwerfen sollte, stürzte ich doch selbst durch die Lebensgeschichten meiner Interviewpartnerinnen immer wieder in den Abgrund eigener Erinnerungen. Meine Worte wurden schwer und traurig und mein Vorhaben, mein Augenmerk auf konkrete Hilfestellung für Betroffene und deren Angehörige zu richten, schien mir nicht mehr realisierbar. So gab es Phasen, in denen ich beschloss, dieses Buch nicht zu beenden, da das, was mich so belastete, wohl kaum anderen helfen konnte.

 Als ich wieder einmal einen Tiefpunkt erreicht hatte, schenkte mir eine Freundin das Buch Wahre Kraft kommt von innen von Louis L. Hay[2]. Beim Lesen erinnerte ich mich wieder daran, mit welcher Leichtigkeit ich trotz eigener Schwere und Betroffenheit mit meinem Buch begonnen hatte. Und dann ermunterten mich auch meine Interviewpartnerinnen, dieses für sie so wichtige Buch zu schreiben.

Das Buch, das sich aus dem ersten „Nicht allein“ entwickelt hat, hältst du heute in Händen. Es wurde durch neue Erfahrungen, Geschichten und Impulse von Lesern erweitert.

 Ein praktischer Ansatz

Da ich selbst erlebt habe, dass mich »Dramenberichte« eher belasten als entlasten, möchte ich mit diesem Buch einen anderen Weg beschreiten. Ich möchte Klarheit in das böse Verwirrspiel des sexuellen Missbrauchs und seiner Folgen bringen. Dabei habe ich Unterstützungsmöglichkeiten gesammelt, die sowohl für Frauen als auch für Männer hilfreich sind. Themen, die speziell Männer betreffen habe ich nur teilweise berücksichtigen können, da ich mich in diesem Bereich für zu wenig kompetent halte.

In der Aufarbeitungsphase meines Traumas spürte ich, wie hilflos mein Mann und ich dieser Situation ausgeliefert waren. Wir wollten sprechen und wagten es nicht. Wir wollten handeln und wussten nicht wie. Viele Betroffene haben mir ähnliche Probleme beschrieben. Deshalb wendet sich dieses Buch sowohl an Menschen, die in der Kindheit sexueller Gewalt ausgesetzt waren, als auch an die Menschen in ihrem familiären Umfeld sowie an ihre Therapeuten und Therapeutinnen. Mein Ziel ist es, Überlebenden[3] dabei zu helfen, ihre Situation besser zu verstehen, sie anzunehmen und heilend aktiv werden zu können. Da es für viele Betroffene schwer ist, über ihr Schicksal zu sprechen und sich zu erklären, bieten die Beispiele anderer Betroffener die Möglichkeit, Worte zu finden.

Angehörigen und Therapeuten möchte ich mit diesen Gedanken Tipps und Anregungen geben, damit sie Überlebende besser verstehen und begleiten können. Damit soll die Kommunikation untereinander erleichtert und Handeln möglich werden.

Klappentext

Resonanz